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Der Lawinenwinter 1954 in Mellau

Heuer wurden wir wieder an die Lawinenkatastrophen in Vorarlberg vor 70 Jahren erinnert. Die Vorarlberger Nachrichten brachten einen großen Bericht, Reinhold Bilgeri's 'Atem des Himmel' wurde im Fernsehen gezeigt und Zeitzeugen erinnerten sich an die verhängnisvollen Tage im Jänner 1954. Natürlich stand für einen Tag die kleine Walsergemeinde Blons wieder im Mittelpunkt der damaligen Ereignisse.


Rettungsaktion in Blons mit einem amerikanischen Hubschrauber.


 

Die meisten Lawinentoten gab es im Großen Walsertal, im Montafon und im Klostertal. Der Bregenzerwald kam noch relativ glimpflich davon mit 15 Lawinentoten. Zwei große Tragödien spielten sich allerdings in Hittisau und Mellau ab.


Das Lawinenunglück in Sippersegg, Hittisau habe ich in einer anderen Geschichte aufgearbeitet.



 

Im schönen Mellau, wie so oft von der Sonnenwirtin Margret besungen, denkt man eigentlich nicht an Lawinen. Nicht die dort lebenden Menschen und schon gar nicht die Gäste. Das es auch anders sein kann, habe ich im Dezember 1976 miterlebt. Ich arbeitete damals im Gasthof Adler. Man freute sich auf den reichlich gefallenen Schnee pünktlich zum Saisonbeginn. Aber irgendwann war es einfach zu viel. Beklemmend war das Gefühl, als man hörte, das auf der Dosegg ein Unglück passiert sei. Auf einmal wurde einem bewußt, dass man eigentlich von drei Seiten eingeschlossen ist in Mellau.


Vorarlberger Nachrichten 13.12.1976


Wie schon 1954 waren es die Unentwegten, für uns die 'wilden Hunde', die an vorderster Front waren. Unsere Helden waren Tone Sutter, die Brüder Josef und Anton Greber von der Prinzwies, die mit dem Traktor den Weg spurten und natürlich Bartle Zünd und Hans Schwarzmann.


 

Die Mellauer Lawinenkatastrophe von 1954 ist im Mellauer Heimatbuch ausführlich beschrieben. Allerdings sind einige Passagen verwirrend und einige Personen, die heroische Taten vollbrachten, wurden nicht genannt.


Der damalige Pfarrer von Mellau, Jakob Fußenegger, hat die Ereignisse von damals stichwortartig in Handschrift notiert, die an Dramatik kaum zu überbieten sind. Ich habe diese Texte abgeschrieben, da sie die dunklen Tage des weissen Todes viel besser schildern, wie jedes Heimatbuch.



Den Originaltext werde ich in Kursivschrift darstellen.

 

Tagebuchblätter von Pfarrer Jakob Fußenegger, Mellau

 

Auch in Mellau liegen harte Tage hinter der Bevölkerung. Alles Interesse konzentrierte sich auf das Großwalsertal und mitten in der eigenen Not krampfte sich uns das Herz zusammen, wie wir mit Batterieempfängern noch Nachrichtenfetzen zwischen dem eigenen Entsetzen übermittelt bekamen. Wir waren zu einer Art ‚Nebenkriegsschauplatz‘ geworden. Der folgende persönliche Bericht ist naturgemäß begrenzt und kann nicht das ganz Geschehene umfassen.

 

Sonntag, 10. Jänner 1954


Wir sind abgeschnitten. Es schneit seit Samstag ununterbrochen, leicht und trocken aber in großen Massen. Der Schnee liegt auf Drähten und Zäunen etwa einen halben Meter hoch, haarscharf aufgeschichtet, wie ein Messer. Wir haben schon mehr Schnee gehabt, aber solche Mengen auf einmal, das kann nicht gut ausgehen. Gestern Abend ist der Schneepflug wegen Motorschaden ganz ausgefallen und Josef Wüstner ist mit seinen beiden Wagen in Bezau stecken geblieben. Es gibt ein- und auswärts keine Verbindung mehr, aber das Telefon funktioniert noch.

 

Beim Hauptgottesdienst sind die Reihen sehr gelichtet, viele können nicht mehr kommen, alte Leute und Schulkinder können sich schon nicht mehr durchkämpfen. Es herrscht eine gedrückte Stimmung, die Wetterberichte lassen nichts Gutes erahnen!

 

Einer nimmt für immer Abschied: Anton Dietrich ist vom Berggut Ebene auf halber Höhe zwischen Mellau und Hirschau zum Gottesdienst gekommen. Mittags drängte er sehr, sein Nachbar, der noch höher und sehr einsam am Hang wohnt, war mit dem Roß herunter: Ich muß gleich dem Kaspar nach, sonst komm ich nicht mehr durch! Er drängt sehr. Die Schwester bittet ihn, noch eine Butte Wasser zu holen, sie habe kein Wasser mehr, die Brunnen sind schon sein längerem versiegt. Er gibt nach und macht sich nach dieser Verzögerung auf den Weg. Nach geraumer Zeit kehrt er wieder: ich habe meinen Tabak vergessen!

 

Um 2 Uhr beginnt der Sturm, der in unbeschreiblicher Weise die Schneemassen durch alle Lüfte trägt. Es tobt und tobt weiter bis spät am Montag nachmittags. Wir sind in unserem Dorfkessel in ähnlicher Situation wie im Großwalsertal: über den Gopf und über den First trägt es den Schnee und lädt ihn an den dorfseitigen Hängen ab. Der Untergrund ist 30 cm tief, hart gefroren. Es ist nicht mehr möglich, die Wege zum Hause offen zu halten. Bis man den Weg ausgeschaufelt hat, ist schon wieder alles eben. In diesen düsteren Stunden kommen Leute mit schweren Anliegen in den Pfarrhof. Aber nochmals schlafen wir gut und kräftig.


 

Montag, 11. Jänner 1954, der Unglückstag.


In der Früh musste man lange schaufeln, um einen Weg in die Kirche freizubekommen. Beim Sturm ist gestern eine neue Lehrerin gekommen, sie steht um halb 8 Uhr vor einer leeren Klasse. Die erste Alarmnachricht: das Wälderbähnle ist ausgefallen, der Postomnibus ist eingestellt. Ich soll an diesem Nachmittag in Batschuns einen Kurs für Jugendhelferinnen unseres Dekanats beginnen, ich muß absagen. Das Telefon ist von vielen Gesprächen blockiert. Um halb 9 Uhr beginnt der Gottesdienst der Handwerkerzunft, es ist der Montag nach Dreikönig, seit altersher im Wald der ‚Lädeler‘, der Beginn des Wälderfaschings. Erst sehr allmählich finden sich die Männer im Gotteshaus, keiner kann mehr seine Wege berechnen. Nachher muß ich sofort wieder an das Telefon, mehr als 10 Gemeinden muß ich noch verständigen, wegen des abgesagten Kurses. Ich komme noch überall durch, nur Schwarzenberg ist gestört.

 

Ein Sommerbild vom Gasthof zum Kreuz aus der Zeit.


Zwischendurch entsteht die Rede für den Handwerkertag, um 13 Uhr  beim Mittagessen soll ich sprechen. Kurz vor 1 Uhr mittags ziehe ich die Schikleidung an und mache mich auf den Brettern auf den Weg. Die Schüler stieben auseinander wie ein wildgewordener Bienenschwarm, sie müssen Rettungsmannschaften im ganzen Dorf holen. Der Bürgermeister begegnet mir auf der Mellenbrücke in höchster Eile: Rudolf Bischof ist vom Berggut Hintere Hirschlitten gekommen! Lawinen, Häuser weg, Verschüttete. Schon rennen die ersten Burschen taleinwärts.


 

 

Der noch lebende Zeitzeuge Werner Zünd, geb. 1928 hat mir Folgendes berichtet:

Am Montag war der 'Lädolar' (Zunfttag) im Kreuz. Wir hatten am Sonntag Abend in der Sonne gespielt. (Werner Zünd und Harald Haller halfen bei der Kapelle Kanisfluh ab und zu am Schlagwerk aus, wenn Tone Schwarzmann wegen zuviel Schnee nicht von der Neßlegg herunter kommen konnte). Während der Kirche habe ich das Schlagwerk in der Sonne geholt und bin ins Kreuz hinüber gegangen. Der Wind war so heftig, dass es mich mit dem Schlagwerk in den Schnee hinein geworfen hat. Beim Mittagessen im Kreuz hatte man gerade die Suppe serviert, als die Sirene los ging. Die Männer mussten in den Lawineneinsatz und der 'Lädolar' war vorbei.


Die Kapelle Kanisfluh. Michael Gasser, Werner Hänsler, Vinzenz Bischof

(Tone Schwarzmann fehlt).


 

Jetzt heißt es nicht überstürzt, sondern überlegt handeln. Ich eile zu den Handwerkern und bringe die erste Hiobsbotschaft. Jetzt wird nicht mehr geredet, jetzt heißt es handeln! Die ersten, die noch Verwandte auf der Hintere wissen, springen auf und eilen davon, die Musikanten in der Uniform und die Handwerker im Sonntagsstaat. Das Essen wird eben aufgetragen, die Vernünftigen sagen: zuerst etwas essen, man weiß nicht, wie lange es dauert. 


Blickrichtung Hirschlitten.


Man darf nur vom ‚Stein‘ aus hinauf, alles andere ist zu gefährlich. Nach ein paar Schub Suppe eile ich davon, rasch hole ich mir das heilige Öl, packe eine eiserne Ration Sanitätszeug und warmes Zeug für die Verschütteten in den Rucksack. Dann ziehe ich los mit den Schiern. Aber beim ersten Haus am Hang stelle ich die Schier ab, man kommt nur noch in den Stapfen zu Fuß weiter.

 

Einer ist bei unserer Gruppe, der am Fuße des Hanges zuhause war. Seine erste Reaktion: Ja, unsere Alten haben immer gesagt, an der Hirschlitten darf man nichts schlagen, keinen alten, keinen jungen Baum und keine Böschen.

 

Endlich geht es querfeldein und dann der Anstieg zwischen den Buchen fast kerzengerade am Hang hoch. Im Sommer würde man es in 10 Minuten schaffen, wir arbeiten, dass uns das Wasser herunter rinnt. Nun steigen wir schon über Fetzen eines Schindeldaches. Hoch droben in einer Buche hängt Bettzeug. Noch eine Höhe und wir stehen an der Unglücksstätte. Irgendwo zur Rechten graben Männer fieberhaft, eine tote Kuh liegt am Weg. Ich steh vor dem Haus des Martin Greußing, verschreckte Kinder werden zum Fenster heraus gereicht, die anderen Zugänge sind verrammelt von den Schneemassen. Drinnen sehe ich einen Verletzten, das Blut läuft ihm an allen Seiten über den Kopf herunter, aber er kann stehen und reden, also nicht gefährlich, weiter zur Höhe.

 


 

In 50 Meter Höhe ist ein kleiner Knäuel Menschen, dorthin strebe ich bis zur Brust einsinkend. Unter der Leitung von Schulleiter Moser werden Wiederbelebungsversuche unternommen. Zuerst fanden die Männer einen Fuß, nur mit Socken bekleidet, eingeklemmt zwischen einer jungen Buche und einem Balken des Hauses.

 

Man grub, es ist die 70 jährige Anna Dietrich. Das Gesicht ist fahl. Schaum steht zwischen den schmalen Lippen, die Stirn ist kalt, aber es ist noch Leben da. So schnell ich kann, spende ich die heilige Ölung und Sterbeablaß. Die Männer arbeiten, dass ihnen der Schweiß herunter rinnt. Mein Mantel dient zur besseren Lagerung der Verletzten bei den Wiederbelebungsversuchen.

 

Da ein Ruf von unten: Berta Bischof ist ausgegraben. Buchstäblich Hals über Kopf eile ich hinunter. Beim großen Loch haben sie die Männer herausgeholt, bis ich mich hinuntergeschafft habe, liegt sie auf einem Notbett in der Stube des Rudolf Bischof, das einzige linksstehende Haus, das halbwegs davonkam. Die Stube ist zum Notlazarett geworden. Die 20 jährige Berta zittert am ganzen Leib, ob Schock, ob Kältegrab ist nicht auszumachen, aber lebensgefährlich schaut es nicht aus. Andere stehen jammernd um sich weinend herum, auch nichts Gefährliches, Vater Markus Bischof und seine Frau sind da, ihr Haus hat es einfach wegrasiert, knapp vor dem Mittagessen, 11:45 Uhr. Berta wollte eben die Bratpfanne zum Tisch tragen. Nur eine Frage: habt ihr alle Angehörigen?, Ja, jetzt fehlt niemand mehr! Da wollten sich 9 Köpfe zu Tisch setzten, ein unglaubliches Glück hat diese Familie gehabt.

 

Die Familie Markus Bischof von der Hinterbündt hatte die Hänsler Hütte gepachtet.

 

Ich eilte wieder davon, schon ruft man nach dem Pfarrer. Sie haben auf Angabe des ernstlich verletzten Hermann Dietrich seinen Bruder Anton gefunden. Hermann berichtet noch kurz in dieser Stube: ich war gleich frei, dann hörte ich Anton. Er war eingeklemmt an einer Buche. Mit den Händen habe ich ihn freigemacht und mit hinuntergeschleift, so lange ich konnte. Dann mußte ich ihn liegen lassen: Hermann hat diese Leistung mit seinem verletzten Kopf, Schlüssenbein- und Rippenbruch vollbracht.

 

Bis ich hochkomme, sind die Männer mit Schulleiter Moser wieder an den Wiederbelebungsversuchen, diesmal bei Anton Dietrich. Bei der Schwester Anna haben sie aufgeben müssen: tot! Hier bei Anton Dietrich ist es auch höchste Zeit. Rasch spende ich die Sterbesakramente, noch gehen die Wiederbelebungsversuche weiter. Dann nehmen wir den Schwerverletzten auf eine Huke und tragen ihn den Hang hinunter, auch in das Haus von Rudolf Bischof. Das Mädel in der Stube hat sich doch schon etwas erholt. Jetzt muß aber unbedingt der Arzt her! Es ist unser Gemeindearzt Dr. Wilhelmi aus Bezau. Er war bereits auf dem Weg nach Mellau, der Telefonanruf wegen dem Lawinenunglück hatte ihn schon nicht mehr erreicht. Ein Pferdefuhrwerk holte in halbwegs ab. 


 

 

Ich eilte die Hänge hinunter, jetzt erst überblicke ich die Stelle, wo die Lawine herunterkam. Oben wurde zuerst das Berggut Ebene erfaßt. Der Waldstreifen dazwischen konnte die fliegenden Schneemassen nicht aufhalten, hat aber selbst kaum Schaden genommen. Vielleicht 70 Mann arbeiten heroben, viele Hände sind bereits daran, einen tiefen Graben durch den Hang zu schaufeln für die Querung von Mensch und Vieh. An einer Stelle, wo wir anfänglich hinauf mußten, haben ein paar Mann einen Abseildienst eingerichtet, so geht es immerhin die glatten 10 Meter leicht hinunter.

 

Dann stehe ich auf der Ebene, die 70 Meter hinüber bis zur Wälderstraße sind gut ausgetreten. Hier an der Stelle hat vor zwei Stunden einer der Retter, ein lawinenerfahrener Mann, zu seinen zwei jüngeren Begleitern gesagt: Es geht auf Leben und Tod, erweckt Reu und Leid.

 

Bis jetzt ging oben alles gut bei der Rettung. Im Laufschritt geht es bis zum nächsten Haus. Dort hat sich zu Dr. Wilhelmi auch Dr. Felder als Assistent gesellt. Hermann Dietrich ist eben verbunden. Den Burschen Kolumban Bischof mit Schlüsselbeinbruch übernimmt Dr. Felder. Ich erstatte kurz Bericht über die Verletzten, Dr. Wilhelmi steigt mit auf. Das bringen sie an uns vorbei die erste Tote. R.I.P.. Bis wir hinaufkommen, ist uns auch der Bruder, Anton Dietrich schon verschieden.

 

Der Arzt untersucht unsere weiteren Verletzten. Der Vater Markus Bischof kann selbst gehen, die Mutter hält sich tapfer aufrecht, schwer scheint die Verletzungen nicht zu sein. Das Mädel Berta hat sich schon erholt, sie ist transportfähig. Ein 14 jähriger Sohn dieser Familie klagt, ein Nagel wurde ihm quer durch den Waden gesteckt, sonst fehlt ihm nicht allzuviel. Und dann ist noch ein Bub des Martin Greußing, er hat ein ständiges, schockartiges Schreien, etwas Blut am Kopf und ein vollkommen verschwollenes Auge, aber der Augapfel ist nicht verletzt.

 

Die Toten haben andere übernommen, mit vereinten Kräften schaffen wir auch die Verletzten hinunter, das Mädel abwechselnd zu dritt auf dem Rücken. Dieser Transport ist ungeheuer streng. An der Strasse wartet ein Fuhrmann mit zwei Schlitten, auf den einen kommt ein Totes auf den anderen das Mädel.

 

 

Der Bürgermeister Anton Hänsler, der die ganze Zeit durch im Dorf mit Gendarmerie Revierinspektor Egle die Organisation leitete, ist hier an der entscheidenden Stelle der Straße. Der junge Gendarm A. Greußing ist immer in bester Kameradschaft mit unserem vortrefflichen Bergrettungsdienst vorn daran an der Bergungsstelle. Unsere Verletzten hatten wir bereits mitten unter dem großen Trieb des geretteten Viehs befördern müssen. Auf der ebenen Straße bringt man jetzt auch die Kühe leichter voran. Die Toten kommen in den Aufbahrungsraum unseres Versorgungsheimes.

 

Wieder im Dorf!  Der Gendarmerieposten ist unser Einsatzkopf. Dem Arzt biete ich für die Nacht Quartier im Pfarrhof an. Aber jetzt prasseln die Schreckensnachrichten auf uns ein: es dunkelt schon und es stürmt ständig weiter. Der ganze Ortsteil rechts der Ach, Zimmerau – Mischen muß geräumt werden. Das tun andere.


Blickrichtung Zimmerau (rechts).


Das Haus Zimmerau 263 der Familie Wüstner wurde verschüttet, aber nur der Schweinestall wurde zerstört. Bruno Wüstner geb. 1953 vor dem verschütteten Haus.


August und Berta Wüstner mit Sohn Bruno nach der Evakuierung vor dem Gasthof Kreuz.


Ungefähr um halb 6 Uhr fast zu gleichen Zeit:  mehrere Lawinen nahe und zwischen den Häusern in Übermellen, dort steht das Haus des Schulleiters Schwendinger seit über 300 Jahren ungefährdet. Schwer beschädigt wird daneben das Haus des Eduard Jenny. Der ganze hintere Teil des Hauses ist eingedrückt. Die Familie hatte sich eben fertig gemacht für die Flucht und stand im Hausgang, da kam die weiße Flut. Nur durch ein Loch konnten sie zur Haustüre hinauskriechen. Aber verschüttet ist niemand.


Übermellen.


 

Die Lawine reichte bis hinter das Haus der Familie Halbeisen in Übermellen.

 

Im Berggut Gschwend des Anton Feurstein (Korlars) hat es das Haus weg, es war zum Glück unbewohnt. Die Schneemassen hat es dabei bis über den Mellenbach getrieben. Und dieses Haus wurde seit 200 Jahren nie von einer Lawine getroffen! Zur selben Zeit beginnt man mit der Räumung, so weit man noch kann in unserem großen Berggut Kou, von der Bergstation der Drahtseilbahn rechts den Hang entlang hinein. Also auch dort ist größte Gefahr. Zwei Burschen versuchten auf Schiern nach Dosegg vorzudringen (hinter dem First), wo ihre Eltern eingeschlossen sind, mussten aber unverrichteter Sache umkehren.

 

 

Von Schnepfau aus dringende Hilferufe nach dem Arzte, eine Frau sein am Verbluten. Der Arzt muß zuerst seine Instrumente, Medizin und Verbandszeug bekommen, erst dann kann er losgehen. Die Eltern sind so klug, Kinder sieht man keine mehr. Wir sind aber in größter Sorge um eine Reihe einsamer Berggüter und was wird erst mit den Gemeinden des Hinteren Waldes sein, mit Damüls? Wenn das so weiter geht, meistern wir die Lage nicht mehr.

 

Schnell ziehe ich mich um, bin von oben bis unten naß. Der Köchin gebe ich Anweisung: Sofort alles bereit machen für Einquartierung an diesem Abend. Während des Umziehens gebe ich die Lawinenmeldung an das Volksblatt durch (wie ich später feststellte, war es die erste Meldung). Der erste Anruf: Redaktion besetzt! Unser Postmeister ist sehr auf Draht. Dann plötzlich dringender Anruf: man hört Hilferufe von Schwendingers Boden bei Hirschau! Die Frau des Arztes kann ich noch verständigen. Dr. Wilhelmi wird nachts nicht heimkommen. Sofort bestelle ich für den notwendigen Nachteinsatz neue Taschenlampen, Meister Vögel bringt sie bald zur Gendarmerie. Von der ersten Bergung ist alles weg: Decken, Mantel, Handschuhe. Mit neuem Material wird gepackt. Von der Gendarmerie geht alle paar Minuten ein neuer Trupp, wie die alarmierten Leute gerade kommen, ab nach Hirschau.

 

 

Es ist etwa 18:10 Uhr. Ich habe derzeit keinen Kameraden zur Verfügung und gehe allein los. Schon auf Schnepfauer Boden werde ich von hinten angerufen: du geh aus dem Weg! Er hat mich nicht erkannt von hinten, ich kann nicht mehr so eilen. Im Vorbeigehen berichtet der junge Mann, es ist Rudolf Schwendinger. Seine Schwester, die jungverheiratete Ilga Fröis sei mit ihnen droben im Boden. Da links müßte doch der Einstieg sein, unmöglich durchzukommen, also müssen wir auf der Straße weiterstapfen bis zum Gasthaus Taube in Hirschau.

 

Nun kann man sich schon durch Rufen mit der Bergungsmannschaft verständigen, hier hat es die Trümmer bis nahe zur Straße heruntergetragen. Lichter geistern herum, aber der Sturm hat nun endlich nachgelassen. Die Fackeln der Mellauer Truppe leisten wertvolle Arbeit.

 

Beim Gasthaus kurzer Bericht: sie kommen schon! Querfeldein arbeite ich mich weiter, nach einem kurzen Anstieg bringt man die Geborgenen. Den jungen Waldaufseher Fröis auf einem Brett festgebunden, er wird auf einem Handschlitten transportiert. Dahinter die jüngere Frau, hoch in der Hoffnung, sie hinkt, kann aber selbst gehen. Ich will sie zur Linken stützen, das bittet sie: hier nicht, hier tut es weh! Also auch Schlüsselbeinbruch. Der Mann schaut sehr blaß aus, aber er lebt. Beim Gasthaus an der Straße sammelt sich dann rasch ein großer Kreis, fast nur Männer. Die Gesichter schauen im Schein flackernden Lichter sehr ernst drein.


 

Ich schaffe zuerst die Frau aus den Blicken, da geht es um zwei Leben, sie muß sofort Wärme und Ruhe haben, hier müssen die Frauen des Hauses das Weitere tun. Unterwegs erzählte sie mir den Vorgang. Sie waren beim Tränken, drei viertel Stunden vorher war der Mann von Bezau gekommen, ungeheuer müd, da er sich allein durch Schneemassen bahnen hat müssen. Dann sahen sie zusammen die Lawine kommen, wollten noch hinein, er kam ganz hinein, ihn hat es mehr erwischt. Sie sei zuerst frei gewesen, habe bald auch den Mann freimachen können und dann hat er noch geholfen um Hilfe rufen, wurde aber rasch schwächer. Die Frau musste dem eigenen Mann die Reue vorbeten.

 

Jetzt ist auch der Mann in den Hausgang geschafft, wir betten ihn rasch auf ein Lager am Boden. Alles an ihm ist naß, er ist schon sehr kalt und jammert zuweilen: Durst! Wir brauchen Decken. Zum dritten Mal muß ich nun die heilige Ölung spenden. Lossprechung und Sterbeablaß. Dazwischen die Hilfmaßnahmen leiten. Wir schneiden ihm die nassen Kleider vom Leib. Dann tragen wir ihn auf dem Bett in die Wirtsstube. Da ist es ruhiger, auch der Puls des Schwerverletzten geht regelmäßig. Ich gebe Anweisung: wenn Dr. Wilhelmi durchkommt, sicher aufhalten, er muß zum Verletzten und zur Frau kommen. Jetzt erst stellt Gendarm Greußing fest, dass die Zähne hart zusammen gebissen sind. Nur mit grosser Mühe können wir den Mund öffnen und ein Holz zwischen die Zähne stecken. Hi und da ein kurzes Trostwort an die Frau, die nebenan im Gaden liegt. Der Arzt ist endlich auf einem Pferd gekommen: Befinden des Kranken sehr ernst.

 

 

Wir aber müssen zurück nach Mellau, dort droht neues, vermehrtes Unheil, unsere besten Mannschaften sind hier. Den Rückweg machen wir mit allen Sicherungen nur in kleinen Trupps. Knapp hinter dem Arzt war die Hebamme in Mellau vorgeritten, hinter dem Reiter sitzend. Zwischen beiden ging eine gewaltige Lawine nieder, genau an der Stelle, wo zwei Stunden vorher die ersten Rettungsarbeiten abgeschlossen wurden. Der weisse Tod schwebte also genau über dem Bergungskommando! Jetzt mussten wir hoch über die Schneemassen klettern. Auf dem Gendarmerieposten die Meldung: Fröis ist gestorben! Wir können es nicht glauben, aber telefonische Nachfragen bestätigen die 3. Todesnachricht. Schwer legt sich dieser Tod auf unsere Herzen. Und dann die Meldung unseres unermüdlichen und verwegenen Führers der Bergwacht, Bartle Zünd: Wir haben die beiden Schwestern Dietrich in dreistündiger Arbeit evakuiert (sonst hat man für den gleichen Weg 10 Minuten), sie seien im Pfarrhof untergebracht, wissen aber noch nichts vom Tod ihrer Geschwister.

 

In Mellau suche ich noch nach den Angehörigen der Ilga Fröis-Schwendinger zu verständigen, aber sie sind auch evakuiert! Es ist 10 Uhr nachts, da komme ich zum Gasthof Kreuz. Vier Burschen kommen aus Richtung Bezau! Wie steht es bei Euch! Wer bist Du? Wer seid ihr? Wir kommen aus Bezau! Dann kommt noch einer mit langen Schritten, die vier ersten schauen ihn entgeistert an:

Woher kommst Du? Allein aus Bezau. Ich gebe kurz Bericht: 3 Tote und nenne im Dunkel die Namen. Drauf einer: Herr gibt ihm die ewige Ruh! Und der andere tonlos: ich bin der Bruder des Josef!


 

 

Trotz meiner dringenden Warnung sind die fünf dann noch in der Nacht nach Hirschau. Todmüde waren wir alle. Noch wurde ausgemacht: wenn eine neue Katastrophe kommt, wird nachts mit der großen Glocke geläutet, dann sammeln sich alle vor dem Gendarmerieposten, froh bin ich, als ich in die Stube trete, die Schwestern Dietrich sind schon im Bett. Und das Radio hat noch schrecklichere Nachrichten aus dem ganzen Land gebracht. Lange, lange kann ich nicht einschlafen: Nach Mitternacht geht das Licht aus!

 

Und zugleich in Schnepfau, wo Dr. Wilhelmi eben eine gefährliche Operation durchführte. Beim schmalen Schein der Taschenlampe, die ich ihm am Abend geliehen hatte, musste er den Eingriff beenden.

 

Und noch ein Nachtrag: Am Abend hatte Dr. Wilhelmi den dringenden Ruf nach Instrumenten und Medikamenten nach Bezau gerichtet. Im Alleingang auf Schiern hatte sich Inspektor Geiger durchgekämpft und den Auftrag ausgeführt. Auf dem Posten in Mellau erklärte er aber dann dem Leiter: Wenn du mir jetzt 2000 Schilling auf den Tisch legst, ich gehe nicht zurück. Am nächsten Morgen war er beim Bergungskommando am Kou. Bis Mitternacht haben die Bergrettungsleute evakuiert, besonders in der Zimmerau.  

 

Ab 0:30 Uhr waren Mellau, Schnepfau und Hinterreuthe ohne Strom.

 

Dienstag, 12. Jänner 1954, Einsatz nach allen Seiten


Um halb 6 Uhr früh läutet bei mir wild die Hausglocke: Sofort stürmen, Verschüttete auf dem Kou! Vereinbarungsgemäß gebe ich ihm den Schlüssel zum Glockenturm, aber weil der Strom ausgefallen war, kann nicht mit der großen Glocke geläutet werden. Der Ton der kleinen Glocke geht im Sturm unter. Auf dem Posten wird ausgemacht: Im Dunkel dürfen wir dahinauf nicht! Nachts um 11 Uhr war die Meldung gekommen, dass Familie Dietrich (von Hirschau) verschüttet sei, gleichzeitig aber auch von den Leuten am Kou selbst die Weisung: jetzt in der Nacht darf niemand herauf! Ab 12:30 Uhr nachts geht die Drahtseilbahn nicht mehr, ab 4 Uhr erst konnte Frau Ilga Zengerle aus dem Anwesen des Jakob Dietrich, der Bruder geborgen werden und zwar von den Leuten am Kou selbst. 2 Kinder fehlen.

 

Erst wenige sind beim Posten, jeder weiß, wie gefahrvoll der Weg da hinauf ist. Ein Trupp wird bis zum Morgen den Weg bis oberhalb der 4 Häuser der vorderen Hirschlitten öffnen, dann hat man nachher schon ein Stück von der Höhe. 

 

Ich spreche in der verbleibenden Zeit mit dem Bürgermeister, jetzt tut organisierte Hilfe not, nicht mehr bloß improvisierter Einsatz der Gutwilligen wie am Montag! Reifere Männer im Dorf ein planendes Einsatzkomitee bilden, die ganz junge Mannschaft muß hinaus.

 

 

Für mich folgt dann ein schwerer Gang: ich muß die beiden Schwestern Dietrich vom Tode ihrer Angehörigen verständigen, ich darf es nicht länger hinausschieben, denn nach der hl. Messe läutet es die Totenglocke. Und die eine Schwester ist Rekonvaleszentin und vor kurzem nach einer schweren Kropfoperation aus dem Spital gekommen. Es war sehr schwer.

 

Dann die Messe: die Kirche kalt und dunkel wie im Leichenhaus, kein Mesner, kein Ministrant. Hinten weint jemand laut. Die erste schwarze Messe für unsere Toten. Und doch hatten wir viel Glück im Dorf, es könnten schon viel mehr Tote sein.

 

Und nach der Messe nochmals ein solcher schwerer Gang: dem Verletzten Hermann muß der Tod der beiden Geschwister schonend beigebracht werden! Unten im Armenhaus sind die Toten aufgebahrt, im Stallhäs, so wie man sie gefunden hat. Und droben im 2. Stock liegt Hermann. Er nimmt es gefaßt entgegen, nimmt uns die Nachricht fast aus dem Mund.

 

 

Und wie wir wieder herauskommen, tagt es richtig. Zwischen den Nebelfetzen sehen wir an zwei verschiedenen Steilhängen Bergungstrupps sich hocharbeiten. Über den Mellen hinüber sehen wir es sehr nahe, da muß es sehr schwer sein, ungemein steil im mannstiefen Schnee. Wer da vorausspurt, muß eine Bärenkraft haben. Wie ich später erfuhr, hat das schwerste Stück, eine Stunde lang Jagdaufseher Kaspar Kaufmann übernommen.

 

Dann melde ich mich wieder, es ist etwa 9 Uhr, bei Posten und lasse mir Bericht geben. Nach 3 Richtungen ist man unterwegs. Von Dosegg hört man Hilferufe, dort ist das Elternpaar Jodok und Barbara Feurstein eingeschlossen, aber wie Schifahrer von gegenüberliegenden Hängen feststellen, steht das Haus noch. Mehrere folgende Einsatztrupps sind nach dem Kou unterwegs, wo 12 Menschen und viel Vieh geborgen werden müssen. Und der 3. Einsatzzug bahnt sich den Weg zum entlegenen und sehr gefährdeten Berggut von Kaspar Bischof, dieser 11 köpfigen Familie. Da saust eben ein Schifahrer heran, H. Lindsberger, der im Alleingang den ganzen Kou ausgefahren ist und höchste Gefahr meldet, der Schnee oberhalb der Hütten hat überall schon Risse. Die Hütte des Kaspar Bischof steht noch. 


Blickrichtung Dosegg (rechts oben).


 

Ich mache mich mit dem nächsten Trupp auf den Weg zum Kou, unsere Gruppe ist ein Abbild dafür, wie sich das ganze Dorf an der Rettung beteiligt. Da ist der Schuleiter und der Metzger, der Schneidermeister und sein Gsell, ein Hilfsarbeiter und Wirt und dann schließt sich noch ein Jungbauer an, der eben den Weg zu seinem Haus freigeschaufelt hat, dass nun Mutter und Schwester die weitere Bergung des Viehs übernehmen können. Von ihm bekommen wir auch ein langes Heuseil als Lawinenseil. Andere Burschen schaufeln weiter, ihr Haus trägt die Jahrzahl 1437.

 

In stetem Anstieg geht es an einer Böschung entlang hoch, aber noch ist es nicht gefährlich. Später wird Schweigen geboten und das Lawinenseil angezogen von Mann zu Mann, es geht schief rechts hoch über ein breites Feld, das sich weit hinaufzieht. Wir atmen auf, als wir wieder schütteren Buchenwald erreichen. Zweimal müssen wir sehr steile Rinnen durchqueren, dann erreichen wir einen ziemlich sicheren Höhenrücken. Knapp darunter haben die gestrigen unheilbringenden Staublawinen begonnen. Da kommen uns durch den ausgeschaufelten Gang zwei Männer entgegen, stark verschnürt in Decken, erschreckend erkennen wir: das das sind die beiden toten Kinder. Schulleiter Moser übernimmt den Abtransport. Wir aber drängen weiter, überall schaufeln sie schon Seitengänge zu den tiefverwehten, einzelnen Hütten, das Vieh ist munter und ruhig. Endlich stehen wir vor der Hütte des Leonhard Dietrich, hier sind auch die Geretteten. Zwei Buben zuerst, 11 und 14 Jahre, aber sie lassen sich nicht zum Abtransport bewegen, sie wollen unbedingt mit ihren Schafen und Ziegen hinunter, das ist junger Bauernstolz.

 

Wir steigen über Hausrat ein, ein wildes Durcheinander wie im Krieg unmittelbar vor der Flucht. Hier ist auch die 42 jährige Mutter, die selbst fünf Stunden unter dem Schnee gelegen und ihr einziges Kind, einen herzigen Buben von 2 Jahren verloren hat. Ein sehr tragischer Fall, denn die Frau hat im Anwesen ihres Bruders aus Gutherzigkeit den Dienst übernommen. Dort, bei Jakob Dietrich, ist die Mutter krank in Hirschau, der Vater selbst verunglückte vor Wochen im Holz und liegt im Sanatorium Böckle. Die fünf Kinder aber, vom fünfjährigen Anton (tot) bis zum vierzehnjährigen Buben konnten das Anwesen nicht allein bewirtschaften. Die Frau ist stark mitgenommen, aber ohne Verletzungen.

 

 

Unterdessen ist es bereits weit über 12 Uhr geworden. Rasch nageln ein paar Männer aus Stangen und Schindeln eine Notbahre zusammen, unterdessen richten wir drinnen in der Stube die Frau und die Kinder zum Transport her. Mit ein paar Bissen dürfen wir uns auch stärken, ein Stamperle wird in dieser Situation auch nicht abgewiesen. Den Tod ihres einzigen Kindes hat Frau Ilga Zengerle erst kurz vor unserer Ankunft erfahren.

 

Aber ich dränge auf Eile. Ein Blick ostwärts schaut fast ins Leere: Von der nächsten Hütte des Josef Natter steht der Stall, das Haus hat es in zwei Lawinenzügen stückweise über den zwei jugendlichen Geschwistern weg, das dritte Haus hat alle unter sich begraben und gab davon zwei nur mehr tot heraus, dann folgten noch zwei ansehnliche Berggüter, die am Montagabend zirka 7 Uhr glatt vom Hang wegrasiert wurden.

 

Die zwei Mädel waren leicht wegzubringen, das größere ging in fremden Stiefeln munter und mußte nur gestützt werden im tiefen Schnee. Das etwa 6 jährige Kleinere, war in den Riemen eines Rucksacks sitzend leicht zu tragen. Sehr anstrengend aber gestaltete sich der Transport der Frau, die wir fest auf die Bahre gebunden hatten, eingemacht mit Bettzeug und Mänteln. Wir brachten sie aber ohne Schaden hinunter. Bei ihrem Firmkind konnte sie ruhen und sich stärken. Es war etwas vom erschütterndsten, als hier der Vater kam, dem mit dem kleinen Toten, seinem Pius, die ganze Freude und Hoffnung verloren gegangen war.

 

 

Im Dorf bekamen wir aber auch freudige Nachrichten. Von Bezau und Reuthe waren Hilfsmannschaften eingelangt, 50 Mann. Unterwegs sahen wir auch manches Gesicht aus Schnepfau beim Schaufeln. Es war auch gelungen, Jodok Feurstein und Frau aus Dosegg, wo es bereits am Montagabend um 8 Uhr den Stall eingedrückt hatte, zu befreien und das gesamte Vieh zu retten. Als der Bergrettungsdienst sich auf den Schrofen durchgekämpft hatte, war die erste erlösende Nachricht des Bauern: habt ihr Tabak? Drei Tage später hat es auch diese Hütte, wo die elfköpfige Familie hauste, eingedrückt.

 

Beim Zudunkeln brachten wir mit zwei Pferdfuhrwerken Frau Zengerle und die zwei Mädchen nach Hirschau nach Hause. Neben der Frau, auf einer Kiste sitzend, kam ich mir manchmal vor wie der Beiwagenfahrer bei einem Motorradrennen. Links und rechts mußte man balancieren und halten, und einmal auf der großen Lawine wurde es ganz toll und wir kippten um, es fehlte nicht viel, wäre uns die in Decken gehüllte Frau in die Ach gekollert.

 

Die ruhigeren Wegstellen boten wieder Gelegenheit zu manchem tröstenden Wort für dieses schwer mitgenommene Mutterherz. Aber ich muß ja noch zur zweiten Mutter, die ihren Buben verloren hat, sie liegt seit längerem im Bett. Hier braucht es starken aufrichtigen Trost, nicht bloß Wort der Konvention. Zwar gehört Hirschau nicht mehr zu unserer Pfarrei, aber in diesen Tagen der Not und des Leides dürfen juridische Grenzen kein Hindernis sein.


 

 

Noch donnern die Lawinen von der mächtigen Kanisfluh, aber ein stilles Idyll freut uns auf dem nächtlichen Heimweg. Links fließt still und ruhig die Ach. Auf einmal plätschert es im Wasser, im Lichtkegel meiner Taschenlampe ziehen still und friedlich 10 Hirsche unmittelbar an uns vorbei, wasseraufwärts. Nicht bloß die Menschen, auch das scheue Wild hat Ungeheuerliches mitgemacht. Neben Milchkühen hat man auch Hirschkühe gerettet in diesen Tagen.

 

Eine Freude, als ich heimkomme, ein Drittel des Dorfes hat wieder Licht, bis unmittelbar zu meinem Nachbarn reicht es. In der warmen Stube ist kurz vor mir der Arzt ‚heimgekommen‘. Auch er war den ganzen Tag auf den Beinen. Mehrfach war werdendes Leben durch die ausgestandenen Schrecken und Strapazen in höchster Gefahr. Im Schein der Kerze halten wir noch eine wertvolle Rückschau und Ausschau, nächste Sorge sind die ganzen Verletzten.

 

 

Mittwoch, 13. Jänner 1954, Überschau


Schule können wir noch keine halten. Deutlich ist heute im Dorf eine gewisse Erschlaffung zu spüren. Wieder ein heller Tag mit Sonne, man atmet auf. Kranke müssen versorgt werden, es wird doch halb 10 Uhr bis zum Frühstück. Aber jetzt ist niemand mehr in unmitelbarer Gefahr. 5 Tote zählen wir und 22 Geborgene, alle haben redlich Anteil daran. Nur ganz Wenige, auch sonst asoziale Elemente, haben sich nicht an den Rettungsarbeiten beteiligt. Rund 40 Familien mußten aus ihrem Heim, rund 30 in fremden Häusern untergebracht werden. Das haben zumeist unsere Frauen in reibungsloser Art besorgt. Auch unsere Gasthöfe haben vielen Unterkunft geboten. Es gibt noch Vieles zu regeln.

 

Auch ein Zeichen der Normalisierung der Lage: ich kann mich wieder rasieren und finde Zeit zum Brevier. Die ersten guten Nachrichten aus den Dörfern des Hinterwaldes erreichen uns. Mit Kurieren kann Post wegeschickt werden. Telefonisch aber sind wir seit Montagabend abgeschnitten. Nachmittags holt man die toten Kinder nach Schnefpau, der Vater des kleinen Pius ist jetzt schon gefasster. Meine ausgeliehenen Sachen kommen allmählich zurück. Bei Markus Bischof, wo fast alles verloren ging, kann durch die pfarrliche Caritas die großzügige Nachbarschaftshilfe noch etwas unterstützt werden.

 

 

Auch einige Gesichter, die man in den letzten Tagen nicht sah, tauchen auf, Bravourstücklein werden bekannt. So hat einer der größten Draufgänger unserer Bergwacht, als er Montag abends durch Radio unser erstes Unglück erfuhr, keine Ruhe mehr gehabt. In aller Früh am Dienstag machte er sich von Bregenz aus trotz aller Schneemassen zu Fuß auf den Weg und ist am Dienstag Abend im Dorf eingelangt, eine gewaltige körperliche Leistung. Und gar einer mit einem steifen Fuß, auch er hat sich am Dienstag früh in Bregenz auf den Weg gemacht, kam am gleichen Tag bis nach Reuthe- Hof und ist heute vormittags eingetroffen.


Nachmittags traf ich auf der Post ganz abgekämpft einen anderen Jungmann aus unserer Gemeinde, Schilehrer Hubert Ratz. Er war zuerst bei den Bergungsarbeiten in Fontanella tätig, über seinen Standort Faschina kehrte er zurück und hat anscheinend mit dem Weg von Faschina über Damüls, Au zu uns die Verbindung geöffnet.


Durch den restlosen Einsatz von Chefmonteur Schwärzler und seinen Mannen hatte heute abends wieder die ganze Gemeinde Licht. Wir können wieder Nachrichten hören, die Not des Walsertales ist erschütternd.

 

Vorarlberger Nachrichten 14.1.1954


 

Donnerstag, 14. Jänner 1954


Ich muß erst wieder schauen, was für einen Tag und was für ein Datum wir haben. Die Vorbereitungen für das Begräbnis laufen an. Im Friedhof muß gewaltig viel ausgeschaufelt werden, aber in diesen Tagen ist viel Hilfsbereitschaft da und es geht. Nachmittags treffen die ersten Behördenvertreter, zwei Beamte der Bezirkshauptmannschaft Bregenz, ein. Die Männer, die in den vergangenen Tagen an verantwortungsvollen Posten standen, geben ihre Berichte. Zwei Anliegen vor allem werden dargelegt: Möglichst baldige Öffnung der Straße und entsprechende Berücksichtigung unseres Gebietes bei den Hilfsaktionen, denn unsere Sachschäden belaufen sich bereits auf weit über 3 Millionen Schilling. Die Schwestern Dietrich in meinem Haus bekommen zum Begräbnistag viel Besuch von auswärts. Man staunt, wie selbst alte Frauen durchkamen.

 

Am Abend gehen noch 50 Mann unserer Gemeinde mit Schaufeln an die Straße, besonders um die Lawinen in der Rauhen Klaus durchzuschaufeln.


 

Freitag, 15. Jänner 1954, Begräbnistag unserer Opfer


Es schneit schwer und naß, doch die großen Schneemassen setzen sich zusehends. Es hat die ganze Nacht gekracht, jetzt kommen die mächtigen Schneebretter und der Schneedruck, das wird auch noch viele Schäden bringen.

 

Die Holzfuhrmänner sammeln sich um 7 Uhr früh um in das Mellental den Weg zu öffnen, wird für Leut und Roß noch ein schweres Stück Arbeit kosten. Bis zum Begräbnis unserer zwei Toten regnet es mächtig und andauernd, jetzt werden dann andere Arten von Lawinen fällig sein. Am Besuch hat man sehr deutlich gespürt, daß keine Verbindung nach außen gegeben ist und daß wegen der schlechten Wegverhältnisse von auswärts manche nicht die Kraft haben, herein zu kommen. Sachschäden werden in vielfacher Hinsicht wieder behoben werden können, nicht aber der Verlust von Menschen.

 

In 3 Tagen gingen im Gemeindegebiet Mellau 19 Lawinen nieder.

Im Juli 1954 wurde Mellau von einer Flutkatastrophe heimgesucht, die im Mellental einen Großteil des Weges und einige Brücken mitriss.


 

Aber auch diese Naturkatastrophen konnten den Lauf der Zeit in Mellau nicht aufhalten. Schon bald wurde Mellau zum touristischen Zentrum im Bregenzerwald.


Das Prädikat 'Sündiges Dorf' haben sich die Mellauer:Innen hart erarbeitet.



 

Das 'Beste' kommt wie immer zum Schluß.


Die offene Meisterschaft der Wintersportvereinigung Mellau musste auf Grund der Ereignisse abgesagt werden. Stattdessen veranstalten man ein Rodelrennen. Das Rodelrennen wurde ein Riesenerfolg und Mellau wurde DIE Rodelhochburg im Land für die nächsten 10 Jahre. Schon bald wurden Landesmeisterschaften und auch die Österreichische Rodelmeisterschaft in Mellau ausgetragen.


Vorarlberger Nachrichten 11.2.1954



 

Für die Kopie des handgeschriebenen Tagebuches von Pfarrer Jakob Fußenegger darf ich mich bei Renate Meusburger (Schwendinger), Großdorf und bei Frau Mag. Elisabeth Wicke, Mellau bedanken. Für die Auskünfte darf ich mich bei Werner Zünd, Mellau und bei Adolf Bischof, Mellau bedanken.


Vielen Dank an Hans Wüstner, Mellau für die beiden überlassenen Bilder.


Leider habe ich von der Mellauer Lawinenkatastrophe von 1954 noch nie ein Foto gesehen. Wenn jemand Fotos hat, bitte melden. Danke.

 

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Bis zum 31. Mai 2024 können Sie mich noch in der Vernissage besuchen. Danach werde ich mich in den Ruhestand verabschieden. Ich würde mich auf einen Besuch freuen. Austrinken auf Raten, sozusagen.


Klaus Riezler.

 
 

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